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Lesvos

Lesvos

"Nein, nicht schon wieder Griechenland!" Ausdrücklich hatte sich Helen von ihrem Arbeitgeber gewünscht, nicht auf eine ägäische Insel versetzt zu werden. Und schon gar nicht auf eine, von der einem nicht einmal der Namen des Zielflughafens etwas sagt. Mytilíni. Nie gehört. Für einen Augenblick dachte die Reiseleiterin aus dem Schwabenland sogar an Kündigung, doch dann wollte sie zumindest sehen, wohin man sie geschickt hatte, packte ihre hundert Kilo Habseligkeiten für einen Sommer in der Fremde, sah Lesvos und blieb.
So wie Helen geht es vielen. Der Zufall verschlägt sie auf die Insel im Nordosten der Ägäis, die sie mit ihrer Ursprünglichkeit und Herzlichkeit schnell in ihren Bann zieht. Wer einmal hier war, der kommt wieder. Das besagt ein altes Sprichwort und die Statistiken der Reiseveranstalter beweisen es. Es gibt kaum einen Ort, an den Urlauber so gern und häufig zurückkehren. Gründe dafür gibt es viele.
Es sind die Vögel sagen die einen, packen ihre dicken Ferngläser ein und setzen sich vorzugsweise an den Golf von Kalloní, wo für das geübte Auge der (Hobby-)Ornithologen viel mehr zu sehen ist, als die Flamingos, die elegant durch die Salzfelder staksen. Es sind die Dichter und Poeten sagen andere, stecken ihren Longus in die Tasche und begeben sich auf die Spuren von Daphnis und Chloe, dem ersten überlieferten Liebesroman der Literaturgeschichte, der irgendwo zwischen Mytilíni und Míthymna spielt. Blühende Wiesen, Olivenhaine, ein plätscherndes Bächlein und das Blöken von Schafen versetzen selbst den Fantasielosesten rasch in die Welt der verliebten Hirtenkinder. Mit Sáppho, der ersten Lyrikerin der Weltliteratur (600 vor Christus) tun sich die Menschen schwerer. Kaum einen interessiert die Dichterin. Vielmehr polarisiert noch heute die Frage, ob man sie als die Ur-Lesbe bezeichnen kann. Historiker sprechen von übler Nachrede und Fehlinterpretation gegenüber der gefühlvollen Powerfrau aus Eressós, die man wegen ihrer Gründung einer Mädchenschule der gleichgeschlechtlichen Liebe bezichtigte.
Soviel ist sicher: Sappho war eine starke Frau. Eine Eigenschaft, die man auf den äolischen Geist zurückführt, der bis heute auf Lesvos häufig zu finden ist. So wurde hier vor 18 Jahren die erste Frauenkooperative Griechenlands gegründet. Die Frauen von Pétra wollten selbständig sein. Mehr tun, als nur in Haus und Hof zu helfen. So schlossen sich 24 von ihnen zu einer Kooperative zusammen. Heute gibt es neun auf der Insel. Eine davon in Skalchóri, dem Ort in den Bergen, in dem ein Minarett an die osmanische Herrschaft erinnert.
Gegenüber der Kirche haben die Frauen ihren Laden. Verführerisch drehen sich Torten in der Kühlvitrine. Es duftet nach Gebäck und frischem Kaffee. In den Regalen säuberlich aufgereihte Fläschchen und Gläser mit aromatisierten Ölen und Essigen, Likören, Marmeladen und den typisch Griechischen Löffeldesserts; gleichermaßen süße wie delikate eingelegte Früchte. Um einem großen Tisch sitzen Frauen aller Generationen und zwirbeln kunstvolle Blüten aus Marzipan. Nebenbei erzählen sie von den Perspektiven, die ihre Kooperative gerade jungen Frauen eröffnet. Für sie ist die gemeinsame Arbeit nicht nur ein Stück Selbständigkeit, sondern eine echte Alternative zum Auswandern. Sie treffen sich, stellen gemeinsam traditionelle landwirtschaftliche Produkte her und verkaufen diese. Den Erlös teilen die 49 Frauen im Alter zwischen 26 und 59 Jahren je nach Arbeitseinsatz untereinander auf. Doch neben Geld bringt ihnen das vor allem auch Ansehen. Anfangs, lacht Janula, hätten ihre Männer nur gespottet, dass sie sich ohnehin nur zum Tratschen träfen. Inzwischen sind sie stolz auf ihre Frauen, deren Produkte bei Einheimischen wie Gästen so gefragt sind, dass sie vor Festtagen durchaus schon mal 50 Wochenstunden in der Kooperative arbeiten.
Kein Vergleich mit dem angenehmen Urlauberleben auf Lesvos. In Stress kann der Feriengast allenfalls geraten, wenn er sich nicht entscheiden kann zwischen baden in einsamen Buchten, flanieren in idyllischen Fischerdörfern, traumhaften Wanderungen, Ausflügen in die erdgeschichtliche Vergangenheit im versteinerten Wald von Sigri oder einem Einkaufsbummel durch die engen Gassen der Agora von Molivos oder die lebhaften Marktstraßen in der Hauptstadt Mytilíni, in denen man schnell die Orientierung verliert zwischen orientalischem Bazar oder westlichen Designerläden.
Am besten man entscheidet in aller Ruhe bei einem Mokka im kafenío oder einem Ouzo und ein paar Häppchen in der Taverne.
Apropos Lesvos: Die Schreibweise mit "b" rührt von einem Übertragungsfehler aus dem griechischen Alphabet. So entstand die Sprachverwirrung mit Lesvos, Lesbos oder Mytilíni, wie viele Griechen die Insel nach deren Hauptstadt nennen.

 
 
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