St. Moritz
Es ist kitschig wie im Werbefilm: Über hohe Steinbrücken auf
schier endlosen, grauen Stelzenbeinen schlängelt sich spektakulär
die Rhätische Eisenbahn mit ihren knallroten Wagen durch die engen
Täler des Engadins. Saftig grün sind die Wiesen, geheimnisvoll
dunkel die Wälder und tiefblau der wolkenlose Himmel über den
steilen Bergen vor den Zugfenstern. Selbst Einheimische vergessen bei
diesem Anblick ins "Kipfeli" zu beissen, das der Zugkellner
mit seinem Bauchladen für ein paar Fränkli offeriert. Die Flachländer
im Abteil pendeln fasziniert mal nach links, mal nach rechts - je nachdem,
wo sich gerade der schönste Blick auftut. Oben, in St. Moritz, hat
man längst den Alltag daheim vergessen und fühlt sich in eine
andere Welt versetzt.
Klar ist die Bergluft. Kein Wölkchen am Firmament. Doch um das zu
sehen, muss man den Kopf weit in den Nacken legen, denn die Gipfel rundum
sind hoch. Wie überdimensionale Bauklötzchen muten die prunkvollen
Grandhotels an, die sich an die Hänge schmiegen. Das Sprachengewirr
am Bahnhof ist international. Bekannte und unbekannte Töne - ein
Weltort von Rang und Namen eben. Kaum zu glauben, dass es ein paar Kilometer
weiter ruhig wird. Nichts als die überwältigende Gipfelkulisse
erregt die Aufmerksamkeit. Und in den Dörfern die schmucken Bauernpaläste
mit ihren wuchtigen Mauern, den Fensterchen, die an Schießscharten
erinnern und der typisch Engadiner Mauerverzierung. Sgrafitto heißt
die alte Kunst, bei der zwei Farbschichten übereinander angebracht
und die obere teilweise wieder abgekratzt wird. Einer dieser Orte ist
Sils. Der Ort, an dem Friedrich Nietzsche jahrelang eine ausgedehnte Sommerfrische
verlebte. Kein Wunder, dass dem gebürtigen Sachsen hier das Herz
aufgegangen ist und er in höchsten Tönen vom Farbenspiel der
Natur schwärmte. Zum Andenken an den großen Philosophen und
Dichter trägt die Halbinsel im glasklaren Silser See den Namen Nietzschestein.
Allenfalls gehört davon haben die heutigen Helden des Oberengadins.
Wegen seiner beständigen Brise, allen voran der Maloja-Wind, der
pünktlich gegen Mittag einsetzt, gehören der Silser und sein
Nachbar, der Silvaplanasee, zu den Hot Spots ambitionierter Wassersportler.
Sogar sonnen- und windverwöhnte Hawaiianer trifft man bisweilen vor
der spektakulären Kulisse von Corvatsch, Corviglia und Julier. Neuerdings
vorzugsweise beim Kitesurfen, das mit seinen knallbunten Drachen als Antrieb
für die Surfer nicht nur ein rasanter Sport sondern für Betrachter
ein schöner Farbtupfer ist.
Nicht ganz so spektakulär aber bisweilen doch ganz schön rasant
geht es im Kajak den jungen Inn hinunter. Kaum kann man glauben, dass
aus diesem sprudelnden Bergbächlein einmal ein träger, breiter
Fluss wird. Indes bei Schweizer Bergen ist es klar, dass sie hoch sind.
So wie die Diavolezza. 2973 Meter hoch liegt der Kessel mit der Schutzhütte,
die Bergtouristen als Ausflugsziel und Alpinisten als Ausgangspunkt für
Touren zu den gewaltigen Eisriesen der Umgebung dient. Piz Palü,
Bernina, Morteratsch spiegeln sich in der Glasfront des Restaurants. Fasziniert
und nachdenklich löffelt man die heisse Kartoffelsuppe, blinzelt
ins ewige Eis und denkt an Nietzsche, der im Engadiner Hochgebirge alle
"silbernen Farbtöne der Natur" angesiedelt sah.
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